Die UN-Kinderrechtskonvention

Das bekannte und immer wieder gern zitierte „Übereinkommen über die Rechte des Kindes“, die so genannte UN-Kinderrechtskonvention, wurde im Jahr 1989 von der UN-Vollversammlung verabschiedet und 1990 auch von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet. Hier trat sie am 5.April 1992 nach der Zustimmung von Bundestag und Bundesrat in Kraft. Seitdem wird die Kinderrechtskonvention gern als Grundlage und Maßstab für eine kindgerechte und kinderfreundliche Politik angesehen. Doch hält die viel gerühmte Konvention, was sie verspricht, nämlich Maßstäbe zu setzen für eine Verbesserung Kinderrechte?

Lassen sich aus der UN-Kinderrechtskonvention unmissverständliche und konkrete rechtliche Forderungen ableiten an die Gesetzgebung der Unterzeichnerstaaten? Sehen wir uns die Konvention einmal näher an: Sie beginnt mit einer sehr feierlichen und schwülstig formulierten Präambel. Genau hier beginnen schon jene Formulierungen, die mich stutzig werden lassen. In der Präambel gibt es z. B. den folgenden Absatz:

„…in der Erkenntnis, daß das Kind zur vollen und harmonischen Entfaltung seiner Persönlichkeit in einer Familie und umgeben von Glück, Liebe und Verständnis aufwachsen sollte,…“

So gut gemeint und so richtig dieser Satz auch ist, so deutlich spricht aus ihm trotz allem nach wie vor das althergebrachte, traditionelle pädagogische Denken. „Liebe“ und „Verständnis“ sind hier zwei charakteristische Schlüsselwörter. Ich will die grundlegende Bedeutung von Liebe und Verständnis in keiner Weise bestreiten. In der klassischen Pädagogik wird das Kind aber allzu häufig auf ein mit Liebe und Verständnis zu umhüllendes Objekt reduziert, ernst genommen und als eigenständiger Mensch geachtet wird es selten.

Was ist mit Werten wie „Achtung“, „Respekt“ oder „Selbstbestimmung“? Diese Worte habe ich in der Präambel nicht ein einziges Mal gefunden. Stattdessen Begriffe wie „Schutz“, „Fürsorge“ und den ohnehin fragwürdigen Begriff von der „mangelnden Reife“. Bereits in der Präambel der Kinderrechtskonvention schimmert also klar der Grundcharakter der klassischen Pädagogik durch, wo der Schutz- und Fürsorgegedanke an erster Stelle steht und nicht der Grundsatz des Ernstnehmens und das Bemühen um mehr Partizipation.

Was das Stichwort „Glück“ betrifft: Glaubten die Verfasserinnen der Konvention wirklich, ein Kind könne in einem Zustand immerwährenden Glücks aufwachsen? Ist es nicht ein vermessener Anspruch, einem Kind ein Leben bieten zu wollen, das ausschließlich aus Glück besteht? Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, solch utopische Ansprüche zu formulieren. Sie versperren eher den Blick für das naheliegende, als dass sie wirklich hilfreich wären.

Hier wäre ein realistischer Anspruch aus meiner Sicht sinnvoller, denn Kinder können genau wie Erwachsene nicht ausschließlich nur Glück erfahren. Dies wäre zutiefst wirklichkeitsfremd. Wir können aber dafür sorgen, dass Kinder stets den Respekt und die Achtung von uns Erwachsenen sicher haben, dass wir ihre Würde achten und uns immer daran erinnern, wie verletzlich sie sind. Wenn wir uns an diesen keineswegs unrealistischen Anspruch halten, dann werden unsere Kinder bereits sehr viel glücklicher aufwachsen, ohne dass man dies noch gesondert formulieren müsste.

Betrachten wir einige besonders charakteristische Artikel der Konvention im Einzelnen. Ein bekannter Artikel, der oft zitiert wird, ist der Artikel 12 von der „Berücksichtigung des Kindeswillens“. Er lautet wie folgt:

„Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, da Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten zu äußern und berücksichtigen die Meinung des Kindes entsprechend seinem Alter und seiner Reife.“

Lässt sich aus diesem Wortlaut überhaupt ein konkretes Mitbestimmungsrecht für Kinder ableiten? Bei genauem Hinsehen wird deutlich, wie schwammig und unverbindlich diese Formulierung ist. Kinder bekommen keineswegs das Recht, möglichst selbst und eigenverantwortlich über ihr Leben mitzuentscheiden, sondern lediglich ein diffus ausgedrücktes Recht auf eine „angemessene Berücksichtigung“ ihrer Meinung. Was bedeutet der sehr dehnbare und vieldeutige Begriff von der „angemessenen Berücksichtigung“?

Wer entscheidet, was unter welchen Umständen „angemessen“ ist? Letztendlich bleibt es damit dem Ermessen der Eltern oder staatlicher Stellen überlassen, was sie unter einer „angemessenen Berücksichtigung“ verstehen oder verstehen wollen. Kinder bleiben jedenfalls angesichts solch unklarer Formulierungen nach wie vor dem Wohlwollen der Erwachsenen überlassen. Konkrete Rechte für die Kinder selbst lassen sich nicht ableiten. Ebenso fragwürdig ist der Passus:

„…, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, …“

Wer entscheidet denn, ab welchem Alter und unter welchen Umständen ein Kind fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden? Auch hier bleibt es dem Wohlwollen der Erwachsenen überlassen, ob sie dem Kind überhaupt eine eigene Meinung zugestehen wollen. Bei so vielen Schlupflöchern und Hintertüren lassen sich aus der UN-Kinderrechtskonvention praktisch keine wirklichen Kinderrechte ableiten. Die Konvention untermauert letztendlich nur den völlig unzureichenden Status Quo. Ein noch viel eindeutigerer Beleg für diese Einschätzung ist der Artikel 5 von der „Respektierung des Elternrechts“, in dem der gleiche scheinheilige Tenor noch viel unverblümter zum Vorschein kommt. Hier heißt es nämlich:

„Die Vertragsstaaten achten die Aufgaben, Rechte und Pflichten der Eltern oder gegebenen falls, soweit nach Ortsbrauch vorgesehen, der Mitglieder der weiteren Familie oder der Gemeinschaft, des Vormunds oder anderer für das Kind verantwortlicher Personen, das Kind bei der Ausübung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte in einer seiner Entwicklung entsprechenden Weise angemessen zu leiten und zu führen.“

Wie ist diese eigenartige und umständliche Formulierung nun zu verstehen? Leiten bedeutet so viel wie anleiten, also jemandem zu sagen, wie und in welcher Weise er etwas zu tun hat. Die gesetzliche Vertreterin hat also das Recht, dem Kind zu sagen, wie und in welcher Weise es von seinen Rechten Gebrauch zu machen hat. Im Klartext heißt das, dass die gesetzliche Vertreterin sogar das Recht hat zu entscheiden, ob ein Kind überhaupt von einem ihm zustehenden Recht Gebrauch machen darf oder nicht. Sie kann sogar im Namen des Kindes auch gegen dessen wirklichen Willen eine Entscheidung treffen.

Das angebliche „Recht des Kindes“ ist hier also bewusst so formuliert, dass das bisherige, traditionelle Elternrecht überhaupt nicht tangiert wird. Die Rechte des Kindes werden hier im selben Atemzug, mit dem man sie ausspricht, sofort wieder eingeschränkt bzw. sogar zur Bedeutungslosigkeit degradiert. Kinder können also nach diesem Artikel gegenüber den eigenen Erziehungsberechtigten praktisch überhaupt keine Ansprüche geltend machen. Es wird weiterhin davon ausgegangen, dass die Eltern die Rechte für ihre Kinder ausüben müssten.

Kann man solche Formulierungen aber überhaupt als einen nennenswerten Fortschritt in der rechtlichen Situation von Kindern betrachten? Tatsache ist: Die Rechte der Eltern bleiben weitgehend unangetastet. Ihnen wird de facto sogar ein weitaus höherer Stellenwert eingeräumt als den Rechten der Kinder. Unter genau dem gleichen Zeichen steht auch der Artikel 14 über die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit:

  • Die Vertragsstaaten achten das Recht des Kindes auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit.
  • Die Vertragsstaaten achten die Rechte der Eltern und gegebenenfalls des Vormunds, das Kind bei der Ausübung dieses Rechts in einer seiner Entwicklung entsprechenden Weise zu leiten.

Auch hier also eine nahezu identische Formulierung wie in Art. 5. Das Kind selbst hat gar keine Religionsfreiheit, sondern auch hier entscheiden wieder die Erziehungsberechtigten, welchem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis das Kind anzugehören hat. Das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit gilt somit bestenfalls gegenüber Dritten oder gegenüber dem Staat, jedoch nicht gegenüber den eigenen Eltern. In Wahrheit sind die Eltern die eigentlichen Inhaber dieses Rechts; sie entscheiden, welchem Bekenntnis ihr Kind angehört.

Wer legt außerdem fest, was unter einer „der Entwicklung entsprechende Weise“ zu verstehen ist? Die Formulierungen der UN-Kinderrechtskonvention decken sich inhaltlich weitgehend mit dem Tenor des nationalen deutschen Rechts, wie man es vor allem im Grundgesetz (GG) und im Bürgerlichem Gesetzbuch (BGB) findet. Auch dort werden Kinder zwar als Inhaber von Rechten genannt werden, die eigentliche Ausübung aber in Wirklichkeit bei den Eltern liegt. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn seit Unterzeichnung der UN-Kinderrechtskonvention kaum Veränderungen in der rechtlichen Stellung von Kindern eingetreten sind.

Die UN-Kinderrechtskonvention wie auch die nationale Gesetzgebung basieren beide immer noch auf dem althergebrachten Glauben, dass Kinder in erster Linie Objekte von Schutz und Fürsorge zu sein hätten. Die eigenverantwortliche Wahrnehmung von Rechten wird ihnen weder hier noch dort zuerkannt. Durch ihren Wortlaut entlarvt sich die Kinderrechtskonvention in vielen Bereichen als eine trickreich formulierte Scheinlösung. Dem Kind selbst werden viele Rechte nur sehr indirekt zuerkannt, bei genauer Betrachtung wird der Grundsatz der elterlichen Fremdbestimmung nicht angetastet. Die Konvention hat somit eher den Charakter eines gut gemeinten Appells.

Hätte man gewollt, dass ausschließlich die Rechte des Kindes im Mittelpunkt stehen, dann hätte man auf solch fragwürdige Formulierungen wie im Artikel 5 von der „Respektierung des Elternrechts“ verzichtet, der wahrscheinlich nur ein Zugeständnis an konservative politische Kreise darstellt.

  • Ich frage mich: Was hätte es dem Grundanliegen der Konvention denn für einen Abbruch getan, wenn man insbesondere auf den Artikel 5 gänzlich verzichtet hätte?
  • Und was soll der ebenso unsinnige wie anmaßende Absatz 2 im Artikel 14? War es vielleicht die Angst, dass die Konvention andernfalls gar nicht mehrheitsfähig gewesen wäre?

In der jetzigen Fassung ist sie jedenfalls in weiten Teilen eine Mogelpackung; ein halbherziges Zugeständnis an die langsam fortschreitende Emanzipation der Kinder. Ihrem hohen Anspruch, die Rechte der Kinder zu schützen, kann die UN-Kinderrechtskonvention für mein Dafürhalten nur eingeschränkt gerecht werden. Man könnte sie spöttisch sogar eher als eine „Elternrechtskonvention“ bezeichnen. Natürlich ist es anerkennenswert, dass auf internationaler Ebene überhaupt eine solche Konvention zustande gekommen ist. Viele der dort formulierten Schutzbestimmung sind unverzichtbar und verdienen nur denkbare Unterstützung, besonders wenn man an die oft unerträgliche Situation der Kinder in der Dritten Welt denkt.

Dennoch wird die Konvention für meine Begriffe überbewertet. Ich wünsche mir eine Kinderrechtskonvention, die uneingeschränkt Partei für die Kinder ergreift und nicht bloß eine Bestätigung des sicherlich gut gemeinten, aber einseitigen Fürsorgegedankens darstellt. Die Konvention darf wegen dieser gravierenden Mängel, insbesondere wegen ihrer vielen doppelbödigen Formulierungen nicht der Weisheit letzter Schluss sein, wenn es um Kinderrechte geht.

Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass man mit der UN-Kinderrechtskonvention erstmals versucht hat, die Rechte von Kindern in völkerrechtlich verbindlicher Weise festzuschreiben. Ihr großes Plus liegt darin, dass neben den klassischen Schutzrechten erstmals auch der so wichtige Bereich der Partizipationsrechte mit aufgenommen wurde. Hervorzuheben ist auch, dass es sich bei der jetzigen Konvention um keinen bloßen Appell mehr handelt, sondern um ein völkerrechtlich bindendes Dokument.

Der Preis für das Zustandekommen UN-Kinderrechtskonvention war aber offenbar, dass man sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen musste. Das aus meiner Sicht größte Manko: Trotz der völkerrechtlichen Verbindlichkeit können die Kinder ihre Rechte nicht selbst einklagen, die Umsetzung liegt immer noch in den Händen der Erwachsenen.

Somit ist die UN-Kinderrechtskonvention ist letztendlich keine wirkliche Hilfe für Kinder, die mehr Rechte für sich in Anspruch nehmen und sich gegen eine übermäßige Bevormundung durch Erwachsene wehren möchten. Aus meiner eigenen Geschichte heraus denke ich dabei auch und gerade an Kinder, die beispielsweise in einem Heim oder einer anderen institutionellen Einrichtung untergebracht werden sollen, ohne dass sie dabei ein aktives Mitsprachrecht haben. Die UN-Kinderrechtskonvention bietet solchen Kindern keine konkrete Hilfe in Form real einklagbarer Rechte. Ich meine deshalb, dass die Konvention den heutigen Ansprüchen einer zeitgemäßen Kinderrechtspolitik nur noch sehr eingeschränkt standhält.

Es wäre an der Zeit für eine gründliche und umfangreiche Überarbeitung der UN-Kinderrechtskonvention, damit sie ihrem Anspruch als völkerrechtlichem und kulturübergreifendem Maßstab auch in Zukunft gerecht werden kann. Ich bin aber sicher, irgendwann wird die Zeit reif sein für eine grundlegende Neufassung der UN-Kinderrechtskonvention, auch wenn der Weg dahin vermutlich noch weit ist.