Muttertrauma

Kürzlich entdeckte ich auf dem Onlineportal von „Leben & Erziehen“ einen kurzen, aber lesenswert geschriebenen Artikel zu einem Thema, das mich persönlich betrifft und deshalb sehr berührt:

Mutterkomplex bei Männern

Die Autorin des Artikels erklärt in kompakter Form, welche Ambivalenzen sich in der Beziehung zur eigenen Mutter verbergen können. Nicht nur für Mädchen, sondern auch für Jungen und Männer. Es ist selten, dass dieses Thema von den Medien überhaupt aufgegriffen wird, deshalb hat es mich umso mehr erstaunt, als ich diesen Artikel entdeckte.

Auch ich hatte als Kind ein tiefgreifend problematisches Verhältnis zu meiner Mutter, was mir erst viel später im Erwachsenenalter mit über 30 Jahren bewusst wurde. Seitdem habe ich mich intensiv mit der Beziehung zu meiner Mutter auseinandergesetzt. Dabei war es unheimlich befreiend, mir eingestehen zu dürfen, dass die Beziehung zu meiner Mutter nicht nur harmonisch war, sondern auch viele belastende Aspekte hatte.

An meine ersten Lebensjahre habe ich nicht mehr ausreichend Erinnerungen, die detailreich genug sind, um daraus heute noch verlässliche Schlussfolgerungen abzuleiten. Meine Säuglingszeit und die früheste Kindheit verliefen ‒ nach Aussage meiner Mutter ‒ noch vollkommen unauffällig. Im Alter von vier Jahren fiel erstmals auf, dass ich so gut wie keinen Kontakt zu Gleichaltrigen aufnehmen konnte. Um mich mehr mit Gleichaltrigen in Kontakt zu bringen, gab mich meine Mutter im Alter von fünf Jahren in einen konfessionellen Kindergarten. Wohl gefühlt habe ich mich dort nie, Im Gegenteil: Die vielen fremden Menschen (Kinder ebenso wie Erwachsenen) machten mir Angst.

Ich habe mich eingeigelt und abgeschottet, dass niemand an mich herankam. Die meiste Zeit saß still in einer Ecke und spielte ausschließlich für mich allein. Auch die Erzieherinnen waren absolut ratlos und fanden trotz intensiver Bemühungen keinen Zugang zu mir. Nach vier Monaten brach meine Mutter das „Experiment“ Kindergarten wieder ab, weil niemand mehr einen Sinn darin sah. So blieb ich fortan wieder zu Hause. So blieb ich fortan wieder zu Hause.

Im Jahr 1979 kam ich im Alter von sechs Jahren in die Schule, nachdem ich den Schultest ohne Probleme bestanden hatte. Obwohl ich auch dort mit fremden Kindern klarkommen musste, bereitete mir die Schule zunächst weniger Probleme als der Kindergarten. Der Grund lag vermutlich darin, dass es in der Schule einen klar strukturierten Tagesablauf gab, wo nicht das zwanglose Spielen im Vordergrund stand, sondern das Erbringen von Leistungen, was mir als Kind weitaus weniger Probleme bereitete als alles, wofür man so etwas wie „soziales Gespür“ benötigt.

Bei meiner Einschulung. Die ängstlich-traurige Haltung war typisch für meine Kindheit.

Trotzdem hatte ich auch in der Grundschule immer noch erhebliche Probleme. In der ersten Klasse war ich zunächst noch relativ unauffällig. Ich galt zwar als fleißiger und strebsamer Schüler, aber auch als zurückhaltend und verschlossen. Irgendwann wurde der soziale Stress so groß, dass ich zunehmend auffälliger wurde. Ich habe Verhaltensweisen gezeigt, die man (typisch für die damalige Zeit) als „frech“ und „unerzogen“ interpretierte. So fing ich z. B. mitten im Unterricht an, laut zu schreien an oder malte irgendwelche skurrilen Bilder.

Warum ich mich so verhalten habe, kann ich heute nicht mehr sagen. Ich vermute, es war der einzig mögliche Weg der Stressbewältigung für mich. Es kam ständig vor, dass ich zur Strafe vor die Tür geschickt wurde, wo ich solange warten musste, bis die Unterrichtsstunde zu Ende war. Mein Verhalten besserte sich dadurch in keiner Weise.

In der Pause stand ich auf dem Schulhof immer auf dem gleichen Platz zwischen zwei Bäumen, wo ich mich bis zum Ende der Pause nicht wegbewegte. Hin und wieder machten sich Mitschüler einen Spaß daraus, mich gewaltsam vereinten Kräften dort wegzuschieben. Darüber hinaus bin ich zum Glück nur selten zum Opfer von Mobbing oder Hänseleien geworden.

Wie bereits an anderer Stelle erwähnt (Zur Person), verließ mein Vater die Familie, als ich einmal acht Jahre alt war. Zwei Jahre später erfolgte die Scheidung meiner Eltern, meine Mutter zog meine beiden jüngeren Schwestern und mich fortan allein groß. Das war für meine Mutter wie für uns Kinder gleichermaßen eine schwere Zeit.

Meine Mutter konnte mir in dieser Zeit wenig Halt geben. Sie war nervlich angeschlagen und hat oft geweint. Einerseits hat sie sich rührend um mich meine Schwestern gekümmert, andererseits war es eine klammernde und erdrückende Liebe, die mich noch kleiner und hilfloser gemacht hat, als ich ohnehin schon war. Ich habe es gehasst, ständig als „mein Stefanlein“ oder „mein Engelchen“ tituliert zu werden. Oft hatte ich den Eindruck, meine Mutter hat gar nicht mich als Person gesehen, sondern ein rührseliges Zerrbild ihres kleinen „Herzileins“, das nichts mit dem zu tun hatte, wie ich als Kind wirklich war.

Ihre Erziehung war von einer Laissez-faire-Haltung geprägt, bei der ich mich schon als Kind oft fragte: „Warum sagt sie jetzt ja, wenn sie eigentlich nein meint?“. Selbst für mich als autistisches Kind war ihre innere Zerrissenheit zu spüren. Ich hätte mir weder eine autoritäre noch eine antiautoritäre Mutter gewünscht, sondern eine Mutter, die ehrlich mit mir umgeht. Die ständigen Verniedlichungen waren nämlich nicht ehrlich. Sie waren der Versuch, jeglichen Anflug von Konflikten in einer Soße aus Kitsch und Rührseligkeit zu ertränken.

Was vielleicht am Fatalsten war: Nach dem Weggang meines Vaters versuchte meine Mutter mitunter, mich zu einem „richtigen“ Jungen zu erziehen. Sie störte sich daran, dass ich nicht im Stehen pinkeln wollte. „Wann gehst du denn mal zur Toilette wie ein richtiger kleiner Junge?“ An diese vorwurfsvolle Frage kann ich mich erinnern, als wäre es gestern gewesen.

Ich habe bis heute nicht verstanden, warum man als Junge unbedingt im Stehen pinkeln soll, wenn man das nicht möchte. Wahrscheinlich wollte mir meine Mutter den abwesenden Vater kompensieren, doch in Wahrheit hat sie mich damit in meinem Selbstbild als Junge noch mehr verunsichert.

Meine Mutter nahm mir (auch meinen Schwestern) so ziemlich ab, was man seinen Kindern nur abnehmen kann. Sie unterwarf sich uns Kindern regelrecht als „Dienstmädchen“. Das ging morgens beim Frühstück los mir Fragen wie: „Stefanlein, soll ich dir ein Joghurt aus dem Kühlschrank holen?“ oder „Soll ich dir ein Brot in den Toaster stecken?“. Vielleicht glaubte sie wirklich, sie täte uns damit etwas Gutes, doch innerlich hatte ich jeglichen Respekt vor meiner Mutter verloren. Wie gerne hätte ich ihr einfach mal ins Gesicht gebrüllt: „Verdammt nochmal, lass mich doch einfach nur in Ruhe hier sitzen und frühstücken!“

Wenig später habe ich mich für diese Gedanken gehasst, denn auf so eine „liebe“ und „herzensgute“ Mutter, die alles für ihre Kindern tut, kann man ja nicht böse sein. Es war ein absolutes Tabu in unserer Familie, auf unsere Mutter wütend zu sein. Niemand durfte ihr Selbstbild als besonders liebevolle und aufopferungsvolle Mutter in Frage stellen. sonst bekam man sofort subtile Schuldgefühle eingeredet, nach dem Motto: „Ich mach immer alles für euch und ihr seid so böse zu mir…“. Die eigenen Gefühle (vor allem die eigene Wut) musste verleugnet werden. Als Kind und noch im frühen Erwachsenenalter wäre ich niemals darauf gekommen, dass genau das eine besonders subtile Form von Manipulation sein kann.

Meine Mutter ging Konflikten stets aus dem Weg, war immer brav und liebenswürdig, passte sich überall an. Sie wollte es allen recht machen und zeigte so gut wie keine Ecken und Kanten. Sie war als persönliches Gegenüber nicht wirklich greifbar, sondern ‒ bildlich gesprochen ‒ wie ein konturloser Gummiball, der einem kein Profil und keinen Widerstand entgegensetzte. Doch wie soll ein Kind jemals sein eigenes Ich entwickeln können, wenn niemand da ist, der ihm ehrliche und notfalls auch kritische Rückmeldungen gibt?

Heute weiß ich: Meine Mutter hatte sehr wohl ihre problematischen Seiten, die man aber nie offen ansprechen durfte, sonst war man sofort das „undankbare“ Kind Dabei wäre mir meine Mutter viel sympathischer gewesen, wenn sie nicht immer diese Aura der perfekten und unangreifbaren Mutter ausgestrahlt hätte, sondern selbstbewusster zu ihren Fehlern und Unvollkommenheiten gestanden hätte. Wir Kinder hätten sie deswegen nicht weniger geliebt, davon bin ich fest überzeugt.

Als Kind konnte ich dieses Frauenbild, das mir meine Mutter vermittelt hat, nicht in Frage stellen, dafür war ich zu jung. Erst im Erwachsenenalter wurde mir bewusst, was für Beziehungsmechanismus da zwischen mir und meiner Mutter wirkte: Als Kind durfte ich auf meine Mutter nicht sauer sein oder sie irgendwie in Frage stellen, denn sie opferte sich ja immer für ihre Kinder auf und war immer so lieb zu uns ‒ so stellte sie sich dar.

Ein ehemaliger Therapeut von mir brachte sogar den Begriff „emotionaler Missbrauch“ ins Spiel, wegen des ständigen Wechselspiels aus verniedlicht werden und „kleiner Mann“ sein müssen, was beides nicht altersgerecht war. Ob meine Mutter mich als Kind wirklich emotional missbraucht hat, möchte ich (noch) nicht abschließend für mich beurteilen. Nach heutigen Maßstäben kann und darf man das wahrscheinlich so einordnen.

Andererseits tue ich mich schwer mit dem Vorwurf des emotionalen Missbrauchs, weil der Missbrauch eines anderen Menschen für mich eine bewusste und vorsätzliche Handlung voraussetzt, die ich meiner Mutter nicht unterstellen will. Gleichsam war es eine ungeheure Befreiung, als mir ‒ angeregt durch meinen Therapeuten ‒ irgendwann dämmerte, dass man einige Merkmale meiner Mutterbeziehung (ungeachtet der Schuldfrage) durchaus in Richtung „emotionaler Missbrauch“ einordnen kann.

Ich will ich nicht verschweigen, dass ich auch schöne Erinnerungen an die Zeit mit meiner Mutter habe. Eine Zeit lang unternahm meine Mutter mit mir und meinen Schwestern kleine Fahrradtouren, immer am Sonntagvormittag nach dem Frühstück. Meine jüngste Schwester war noch ganz klein und saß vorne am Lenker in einem Kindersitz. Meine Mutter hatte einen großen Korb mit Essen und Trinken dabei, mit dem wir uns draußen in der Natur zum Picknick niederließen.

Die Ziele für diese Ausflüge durfte ich selbst bestimmen. Ich suchte mir ungewöhnliche Zielorte aus, die auf meinem Stadtplan besonders interessant aussahen. Das konnte ein abgelegener Rastplatz außerhalb der Stadt sein oder auch ein ungewöhnlicher Straßenname. Meine Mutter erfüllte mir diese Wünsche fast immer, auch wenn sie sich nur ungern in unbekannte Gegenden vorwagte. Meistens war ich derjenige, der mit dem Fahrrad voranfuhr, denn ich hatte mir die Strecke auf dem Stadtplan vorher einstudiert und wusste genau, wo es langzugehen hatte.

Gerade auf die Weihnachtstage freute ich mich immer ganz besonders, weil ich sie als einen der wenigen Lichtblicke in einem ansonsten eher freudlosen Jahresablauf empfand, wo man die Alltagssorgen mal für kurze Zeit vergessen konnte. Nicht zu vergessen auch die Geburtstage, an denen wir Kinder immer reichlich beschenkt wurden und (fast) alles bekamen, was wir uns wünschten. Wir bekamen auch immer unser Taschengeld, hatten nie finanzielle und materielle Sorgen.