Geschlechtergerechte Sprache

Über das „Gendern“ (im Deutschen so viel wie geschlechtergerechte oder geschlechtersensible Sprache) werden seit einigen Jahren viele kontroverse, oft sehr leidenschaftliche und polarisierende Diskussionen geführt. Das Thema ist politisch aufgeladen und hat das Potential, die Gesellschaft zwar nicht zu spalten, aber dennoch für die Ausbildung von Lagern zu sorgen, die ‒ so scheint es ‒ gerade in den sozialen Netzwerken oft verbissene Kleinkriege miteinander austragen. Wirklich verstehen kann ich diese Verbissenheit um die deutsche Sprache nicht. Ein wenig mehr Gelassenheit und Toleranz fände ich auf allen Seiten überaus wünschenswert.

Ich möchte angesichts dieser Ausgangslage nicht noch eine weitere Diskussion eröffnen nach dem Muster: „Soll man gendern oder nicht?“ Mich beschäftigt eher die Frage, ob es Alternativen gibt, mit denen man (sprachliche) Geschlechtergerechtigkeit auch ohne die üblichen Formen des Genderns herstellen oder zumindest anstreben kann.

Ich selbst halte nichts davon, unsere schöne deutsche Sprache, die Sprache vieler großer Dichter und Sprachästheten, mit mathematischen Sonderzeichen (:/* usw.) zu verschandeln. Von den „Kolleg:Innen“ oder „Kolleg*Innen“ zu schreiben oder gar zu sprechen, das verträgt sich nicht mit meinem Gefühl für sprachliche Ästhetik. Insofern muss ich mich als klarer Gegner der gebräuchlichen Gendersprache zu erkennen geben. Ich kann mich nicht mit einer zusammengeschusterten Kunstsprache identifizieren, die von ideologischen Prinzipien diktiert wird, dabei aber nichts mit der Lebenswirklichkeit und dem lebendigen Sprachalltag der Menschen zu tun hat.

Dennoch bin ich der Meinung, dass Geschlechtergerechtigkeit ein wichtiges und berechtigtes Anliegen ist, das man auch in der Sprache zum Ausdruck bringen sollte. Doch wie geht das, ohne auf die bekannten Formen der Gendersprache zurückzugreifen? Über diese Frage habe ich mir Gedanken gemacht und möchte meine Überlegungen hier vorstellen. Ich plädiere für einen Vorschlag, den ich noch irgendwo gehört oder gelesen habe. Das Prinzip Ist einfach erklärt:

  • Wie wäre es, wenn Männer bei gemischtgeschlechtlichen Adressatinnen grundsätzlich die weibliche Form benutzen? Zum Beispiel „Liebe Kolleginnen“ oder „Liebe Kommilitoninnen“.
  • Im Gegenzug verwenden Frauen bei gemischtgeschlechtlichen Adressaten die männliche Form, zum Beispiel „Liebe Kollegen“ oder „Liebe Kommilitonen“.
  • Frauen wie Männer ehren in ihrem Sprachgebrauch also das jeweils andere Geschlecht. Das schafft Sprachgerechtigkeit, indem jeder sich selbst ein Stück zurücknimmt und sich auf das Gegenüber bezieht, dem man Anerkennung und Respekt zukommen lässt.
  • Auch in Situationen, in denen beide Geschlechter gleichzeitig angesprochen werden, spricht man das andere Geschlecht immer zuerst an. Männer sagen zum Beispiel weiterhin: „Sehr geehrte Damen und Herren“, Frauen jedoch: „Sehr geehrte Herren und Damen“. Letzteres mag sich ungewohnt anhören, wäre aber folgerichtig nach meiner Idee, dem jeweils anderen Geschlecht den Vortritt zu lassen.
  • Sind auch Kinder unter den Adressatinnen oder im Publikum, dann könnte man sagen: „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mädchen und Jungen“. Siehe auch: Wie viel Respekt verdienen Kinder?
  • Nur dort, wo man es tatsächlich mit einem geschlechtshomogenen Publikum zu tun hat (Frauengruppe, Männerstammtisch usw.), redet man weiterhin in der ausschließlich weiblichen oder männlichen Anredeform. Alles andere wäre absurd und entgegen jeglicher Logik.

Ich bin überzeugt, ein tiefer Sinn des Lebens liegt darin, dass beide Geschlechter sich gegenseitig lieben, respektieren und ehren. Diesen Gedanken könnte man im alltäglichen Sprachgebrauch auf relativ einfache und unkomplizierte Weise zum Ausdruck bringen. Ich fände das einen wunderschönen Gedanken und verbinde damit die Hoffnung, dass sich die leidigen Debatten um das Gendern damit irgendwann erübrigen.

Meine Vorstellung von sprachlicher Geschlechtergerechtigkeit bietet den Vorteil, dass der Fokus auf die Frage gelegt wird: Wie kann ich dem Anderen, meinem geschlechtlichen Pendant, etwas Gutes tun und ihm Respekt erweisen? Dieser Punkt ist mir besonders wichtig, denn mein Eindruck ist: In der Genderdebatte reagieren viele Menschen (auch ganze Gruppen) sofort beleidigt, wenn sie nicht ausdrücklich erwähnt und gewürdigt werden. Aus meiner Sicht wäre der gegenteilige Weg richtig: Sich selbst ein Stück zurücknehmen zugunsten des Anderen ‒ und nicht immer die eigene narzisstische Kränkung in den Vordergrund stellen.

Außerdem hege ich die Hoffnung, dass meine Philosophie ‒ im Gegensatz zum „richtigen“ Gendern, das tendenziell von Anhängern des linksgrünen Spektrums praktiziert wird ‒ eher die bürgerliche Mitte anspricht und dort konsensfähig sein könnte. Trotzdem will ich nicht ausschließen, dass meine Vorschläge auch Schwächen haben, die einer Akzeptanz in breiten Bevölkerungskreisen entgegenstehen. Auf diese Aspekte möchte ich hier ehrlicherweise thematisieren.

  • Ein möglicher Nachteil wäre vielleicht, dass Menschen, die sich keinem Geschlecht eindeutig zugehörig fühlen, sich in meiner Philosophie nicht wiederfinden, da sie auf der klassischen Bipolarität der Geschlechter beruht. Vielleicht lassen sich dafür jedoch Nischenlösungen finden. Zum Beispiel in der Form, dass trans- und intersexuelle Menschen nach eigenem Ermessen darüber entscheiden, welches Geschlecht sie in der persönlichen Anrede ehren möchten.
  • Ein weiterer Nachteil käme wahrscheinlich darin zum Tragen, dass meine Ideen nicht auf natürliche Weise in der Sprachgeschichte verwurzelt sind ‒ und den Menschen letztlich genauso von oben aufoktroyiert wären wie die Diskussion um das Gendern. Zwang oder moralischer Druck sind jedoch das letzte, was ich will, im Gegenteil: Da ich selbst leidenschaftlich gern mit Sprache und sprachlichen Konventionen experimentiere, will ich auch anderen Menschen nicht vorschreiben. wie sie zu sprechen haben.
  • Nicht zuletzt wäre es wahrscheinlich auch missverständlich, wenn ich die „Lieben Kolleginnen“ anspreche, weil sich Männer dann explizit ausgeschlossen fühlen könnten. Das Prinzip dahinter ist (noch) nicht geläufig, außer mir kennt es bislang kaum einer. Der Erklärungsbedarf wäre am Anfang hoch, was mit Sicherheit auch anstrengend werden kann.

Es steckt zugegebenermaßen noch viel Utopie und Wunschdenken hinter meinen Ideen. Trotzdem bin ich überzeugt, sprachliche Kreativität ist nie verkehrt und kann auch in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit eher zu einer Lösung beitragen als politische Oberlehrerhaftigkeit jeglicher Couleur.

Ich habe meine Philosophie auch selbst schon umgesetzt, indem ich zum Beispiel in einer beruflichen Mail von den „Kolleginnen“ geschrieben habe, obwohl auch in diesem Fall beide Geschlechter gemeint waren. Bisher hat sich niemand daran gestört oder es einfach ist noch niemandem aufgefallen. Meistens benutze ich im Berufsleben jedoch die Anrede „Liebe Kolleginnen und Kollegen“. Das ist freundlich und höflich, damit kann man nichts falsch machen und vermeidet Missverständnisse.

Dennoch werde ich auch weibliche Anredeformen in generischer Weise weiterbenutzen, wann immer ich das Gefühl habe, jetzt wäre ein passender Moment, das erneut auszuprobieren. Ich bin gespannt, was für Erfahrungen (gute und schlechte) ich damit noch machen werde. Es wird vielleicht nicht immer einfach, aber mit Sicherheit ein spannender Weg.

Nicht zuletzt finde ich, dass es auch einen geheimnisvollen Touch von Erotik hat, wenn beide Geschlechter über die Sprache immer wieder daran erinnert werden, worin ihre tiefe Verpflichtung besteht; nämlich sich in Liebe und Respekt zu begegnen, sich aufeinander zu beziehen und versuchen, sich gegenseitig zu verstehen und ineinander hineinzuversetzen. Ich finde diesen Gedanken wirklich wunderschön und allemal wert, sich dafür einzusetzen.

Abgesehen vom erotischen Aspekt sind sprachliche Freiheit und Kreativität etwas Wunderschönes. Ich plädiere für mehr Mut, über bestehende Konventionen hinauszudenken und mit Sprache ganz bewusst zu experimentieren. Sprache und sprachliche Festlegungen sind nichts in Stein Gemeißeltes und können ‒ idealerweise im gesellschaftlichen Konsens ‒ durchaus verändert werden. Dazu möchte ich Mut machen, denn solange nicht irgendwer die Initiative ergreift und neue Visionen entwickelt, wird sich nichts ändern.

Ich selbst bleibe auch in Zukunft für vieles offen. Nur das Gendern mit mathematischen Sonderzeichen, das wird man bei mir auch in Zukunft ganz sicher nicht finden, weil ich mich damit nicht wohl fühle und nicht guten Gewissens dazu stehen könnte.