DB und GDL, bitte einigt euch!

Zu den belastendsten Umständen meiner Kinderheimzeit gehörte die Tatsache, dass fremde Menschen (kaltherzige und wenig empathische Erzieherinnen) darüber entscheiden durften, wann ich Menschen sehen durfte, die mir etwas bedeuteten. Hauptsächlich Familie und Verwandte, denn Freunde hatte ich ja kaum.

Als ich vom ersten Heim ins zweite wechselte, wusste ich (angesichts der strengen Regeln) zunächst überhaupt nicht, wann ist überhaupt wieder nach Hause komme und meine Familie wiedersehen darf. Und für wie lange: Wird es ein Wiedersehen für eine ganze Woche oder nur für einen Tag? Das sind schlimme und belastende Erinnerungen, die mir bis heute präsent sind, denn ich war dem Kinderheimpersonal und seiner „Gnade“ praktisch vollständig ausgeliefert.

Glücklicherweise sind diese Zeiten vorbei. Trotzdem quält mich oft noch die unterschwellige Angst, ich könnte solche Situationen noch einmal erleben. Es gibt nicht viele Menschen, die mir persönlich wirklich nahestehen. Oft wohnen sie in anderen Städten, in anderen Bundesländern. Da gibt es zum Beispiel meine gute Bekannte aus Baden-Württemberg, die ich mehrmals im Jahr besuche. Oder meine Tante aus Nordrhein-Westfalen, die mir viel bedeutet. Da ich kein Auto habe, bin ich auf die Bahn angewiesen, um diese Menschen zu besuchen ‒- auf Züge, die (halbwegs) pünktlich und verlässlich fahren.

Der Haken daran: Wenn nun die Lokomotivführer streiken und die Züge deshalb nicht fahren, dann kann ich Menschen, die mir wichtig sind, unter Umständen nicht besuchen, obwohl es eigentlich geplant war und ich mich darauf gefreut hatte. Vertraute Menschen nicht sehen können ‒ so etwas löst bei mir noch heute Beklemmung, Ohnmacht, Verlustangst, ja sogar Wut und Aggression aus.

Glücklicherweise sind es heute keine kaltherzigen Heimerzieherinnen mehr, die darüber entscheiden, wen ich besuche darf und wen nicht. De facto sind es aber Organisationen wie die Deutsche Bahn oder die GDL, die eine gewaltige Entscheidungsmacht darüber haben, ob sich Menschen besuchen können; ob sie sich wie geplant sehen „dürfen“ oder nicht.

Beides hat nüchtern betrachtet einen völlig anderen Hintergrund, doch das „innere Kind“ in mir weiß das nicht. Das „innere Kind“ meldet sich auch bei einem Bahnstreik zu Wort und erlebt ähnliche Gefühle von Ohnmacht, von Beklemmung und Hilflosigkeit, wie ich sie zu meiner Kinderheimzeit allgegenwärtig waren. Rational ist das für Außenstehende vielleicht nicht nachvollziehbar, aber subjektiv empfinde ich das so. Nur mit großer Kraftanstrengung kann in solchen Momenten etwas dagegen tun.

Jedes Mal, wenn ich Herrn Weselsky im Fernsehen oder in der Zeitung sehe (Herr Seiler zeigt sich ja kaum), zucke ich innerlich zusammen; empfinde Herzklopfen und Beklemmung. Das mache ich Herrn Weselsky nicht zum Vorwurf, denn wahrscheinlich ist das nicht sein Ziel. Trotzdem möchte ich diese Mechanismen offenlegen, was eine Tarifauseinandersetzung zwischen DB und GDL (in der es vordergründig nur um tarif- und arbeitsrechtliche Fragen geht) bei traumatisierten Menschen bewirken kann. Selbst wenn keine böse Absicht dahintersteckt, die ich auch niemandem unterstellen will.

Mir ist klar, dass viele Menschen durch die regelmäßigen Bahnstreik in sehr unangenehmer Weise betroffen sind. Vor allem Menschen, die beruflich auf die Bahn angewiesen sind und dadurch mit vielleicht noch unmittelbar existenzielleren Problemen zu kämpfen haben. Ich möchte ich dieser Hinsicht nicht selbst bemitleiden oder meinen Leidensdruck höher bewerten als den von anderen Menschen. Trotzdem frage ich mich: Ist es normal, dass meine traumatischen Kindheitserinnerungen (tiefsitzende Ohnmacht und Verlassenheitsängste wie im Kinderheim) durch einen Arbeitskampf bei der Deutschen Bahn so massiv angetriggert werden? Oder ist das ein persönliches Problem von mir, dass (wenn ich den Advocatus diaboli spiele) auf einer tieferen Ebene wenig mit Bahn und GDl zu tun hat, sondern eher mit mir selbst? Das sind Fragen, mit denen ich mich angesichts der aktuellen Situation ernsthaft auseinandersetzen muss.

Wie sich die Lage heute (Stand: 3. März 2024) darstellt, muss nach den erneut gescheiterten Tarifverhandlungen in der kommenden Woche sehr wahrscheinlich wieder mit neuen und vielleicht historischen langen Streiks gerechnet werden. Diese Sorge löst in mir schon jetzt ein ganz mulmiges und beklemmendes Gefühl aus, in der das „innere Kind“ wieder mächtiger zu werden droht als mein erwachsenes ich. Für diesen Fall werde ich mir Strategien überlegen müssen, wie ich damit umgehe, notfalls auch mit Hilfe von Arztgesprächen und Beruhigungsmitteln.

Alles nur, weil die Bundesregierung vor über 30 Jahren die Bundesbahn privatisiert und damit Streiks von ehemals verbeamtetem Personal erst möglich gemacht hat. Das war ein fataler Fehler, der vor allem zu Lasten von Menschen geht, die aus verschiedensten Gründen auf einen zuverlässig funktionierenden ÖPNV angewiesen sind. Bei vielen Menschen sind das berufliche Gründe, es können aber auch Gründe sein, die in einer zurückliegenden Traumatisierung begründet liegen, wie in meinem Fall. Traumatisierte Menschen hatten jedoch noch nie eine Lobby in dieser Gesellschaft. Genauso wenig wie Menschen, die sich ganz bewusst für den ÖPNV und gegen ein eigenes Auto entschieden haben.

Deshalb mein Appell an sowohl an die Deutsche Bahn als auch an die GDL: Lieber Herr Seiler, lieber Herr Weselsky, bitte einigen sie sich jetzt endlich auf einen schnellen Tarifabschluss zum Wohle ihrer Kunden, gerade auch zum Wohle ihrer traumatisierten Kunden!

Mich erinnert das unsägliche Gezänk zwischen Bahn und GDL nicht nur an die Zeit im Kinderheim, sondern auch daran, wie sich meine Eltern früher gestritten haben. Als Kind wünscht man sich in solchen Momenten nichts sehnlicher als, dass sich die Eltern sich endlich einigen und wieder liebhaben, damit man sich als Kind nicht so hilflos fühlen muss. Der Vergleich mag befremdlich und weit hergeholt erscheinen. Vielleicht ist es auch eher mein „innere Kind“ als mein erwachsenes Ich, das solche Vergleiche anstellt.

Trotzdem: Ich wünsche mir so sehr, dass auch DB und GDl sich endlich wieder „liebhaben“ zum Wohle ihrer Bahnkundinnen und Bahnkunden. Damit wir als Kunden uns nicht mehr so hilflos den „höheren Mächten“ ausgeliefert fühlen. Natürlich sind erwachsene Bahnkundinnen keine Kinder mehr, das will ich damit nicht sagen. Trotzdem gibt es Situationen, in denen man sich auch als Erwachsener noch derart hilflos fühlt, dass sich das „innere Kind“ mit voller Wucht zurückmeldet, was sehr belastend sein kann.

Wollen sie lieber Herr Seiler, lieber Herr Weselsky, so etwas wirklich verantworten: Eine Retraumatisierung von Menschen (und Kunden), nur weil sie sich in tariflichen Fragen nicht einig werden? Bitte denken Sie nicht nur an ihre jeweiligen Partikularinteressen, sondern auch an das große Ganze, An ihre gesellschaftliche und soziale Verantwortung. Ich hoffe und wünsche mir, Sie haben diese Empathie tief irgendwo in Ihren Herzen und sind bereit, danach zu handeln.

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